Regulatorische Unterdeckungen im Fokus der ElCom

Regulatorische Unterdeckungen im Fokus der ElCom

Wichtige Aspekte bei der Umsetzung der behördlichen Vorgaben im Rahmen von regulatorischen Deckungsdifferenzen im Stromnetz und der Grundversorgung

Die regulatorischen Deckungsdifferenzen sorgen mit Fokus auf die hohen Unterdeckungen bei Schweizer Verteilnetzbetreibern weiterhin für viel Gesprächsstoff. Der vorliegende Beitrag skizziert die grundlegenden Handlungsoptionen aus Sicht betroffener Netzbetreiber.


 

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1. Hintergrund

Gemäss Art. 14 Abs. 1 StromVG darf das Netznutzungsentgelt die anrechenbaren Kosten nicht übersteigen. Massgeblich sind dabei die Kosten des jeweiligen Geschäftsjahres des Netzbetreibers (Art. 7 Abs. 1 StromVV). Es liegt in der Natur der «ex-post» Regulierung, dass die definitiven anrechenbaren Kosten sowie die aufgrund von schwankenden Mengen erzielten Erlöse jeweils erst nach Abschluss des jeweiligen Geschäftsjahres feststehen. Entsprechend sind Deckungsdifferenzen im Sinne von Überdeckungen (Erlöse übersteigen die Kosten) sowie Unterdeckungen (Kosten übersteigen die Erlöse) aus den jeweiligen Geschäftsjahren die Regel.

Das Fachsekretariat der ElCom erhöht schon seit einiger Zeit den Druck auf die Netzbetreiber mit vergleichsweise hohen Unterdeckungen (= Guthaben der Netzbetreiber bei ihren Kunden), damit diese ihre Unterdeckungen entweder konsequent abbauen oder endgültig darauf verzichten. Der Behörde sind dabei die kumuliert rund CHF 1.5 Mia. an Unterdeckungen ein Dorn im Auge, da diese zu Tariferhöhungen in Folgejahren führen könnten. Vertreter der ElCom beurteilen dieses theoretische Tariferhöhungspotential von 4% bei der Netznutzung und 8% bei der Energie als «erhebliches finanzielles Risiko nicht nur für die Privathaushalte, sondern vor allem für die Endverbraucher in Gewerbe und Industrie»(1). Diese «Hypothek der Endkunden» soll abgebaut oder ausgebucht werden.

An dieser Stelle sollen die Fragen offen bleiben, ob diejenigen Netzbetreiber, welche in der Vergangenheit zurückhaltend und kundenfreundlich tarifiert haben, diejenigen sind, welche von einer Regulierungsbehörde in erster Linie kritisiert werden sollen und ob 4% bzw. 8% Tariferhöhungen derart grosse Risiken für Endkunden bedeuten. Im Vergleich scheinen die Marktpreisrisiken aktuell zumindest dieses Problem hier um Faktoren zu übertreffen. Nichtsdestotrotz scheint die Forderung der ElCom berechtigt, da es schlicht wenig Sinn macht, dass gerade nicht gewinnmaximierende Versorger die über die Zeit angehäuften Unterdeckungen ewig vor sich hinschieben (und auch noch verzinsen). So weist die Forderung der ElCom denn auch auf das eigentliche Problem hin, welches letztlich der Gesetzgeber zu klären hat: Die Verjährungsfrage bzw. der Verfall von ungenutzten Unterdeckungen ist bis heute nicht geregelt.

2. Forderung der ElCom

Per 5. März 2019 hat die ElCom mit der Weisung 2/2019 die Weisung 1/2012 vom 19. Januar 2012 resp. 13. Juni 2013 ersetzt. Bezüglich Anrechnung von «wesentlichen Beträgen» hat sich in der Weisung nichts verändert. Weiterhin sollen sie «gemäss dem Erhebungsbogen bzw. der Kostenrechnung in der jeweils gültigen Fassung hergeleitet und wesentliche Beträge auf in der Regel drei aufeinander folgende Kalkulationsperioden verteilt werden».

Im Rahmen der Informationsveranstaltungen für Netzbetreiber in den Jahren 2020 und 2021 bekräftigte die ElCom ihre Sicht, dass Unterdeckungen nicht angehäuft und fortgeschrieben werden dürfen und forderte die Netzbetreiber auf, alte Unterdeckungen aktiv auszubuchen. Die ElCom beurteilte dabei folgende Arten von Unterdeckungen als unzulässig:

  1.  «Virtuelle» Unterdeckungen: Unvollständige Einrechnung der Kosten in die Tarife und damit Fortschreibung der Unterdeckungen;
  2.  Unterdeckungen als Reservebildung: Fehlender Einbezug von Unterdeckungen in Folgejahren als «Reserve» infolge regulatorischer Unsicherheit;
  3.  Unterdeckungen als «Finanzinstrument»: Unzulässige Bildung von Unterdeckungen mit dem Ziel von «Zinsgewinnen».

In ihrem Beitrag im Jusletter (2) im März 2021 legten die Vertreter der ElCom als Replik auf unseren Newsletterbeitrag vom 6. Dezember 2019 (3) dar, dass es bei den Deckungsdifferenzen keine Praxisänderung gäbe. Die Aufforderungen zur Streichung von Unterdeckungen nach drei Jahren sei keine Praxisänderung, da die ElCom seit ihrer Weisung 4/2010 vom 10. Juni 2010 den Abbau von Deckungsdifferenzen «in der Regel innerhalb von drei Jahren» vorgebe. Ob diese Regel in Bezug auf Unterdeckungen (= Guthaben) als Vollzugsvorgabe (4) oder aber als harte Verjährungsfrist (5) zu verstehen ist bzw. ob die zunehmend harte Definition der dreijährigen Frist eine Praxisänderung darstellt oder nicht, kann inhaltlich unterschiedlich interpretiert werden. Unabhängig davon plant der Gesetzgeber im Rahmen der Revision des StromVG nun mit Art. 15 Abs. 3bis StromVG die Praxis der ElCom mittels gesetzlicher Grundlage zu bestätigen und damit den Spielraum für Unterdeckungen und damit für Tarifstabilität der Netzbetreiber einzuschränken.

Auf Ankündigung im Newsletter 8/2021 vom 31. August 2021 hat das Fachsekretariat nun am 15. September 2021 Briefe zum «Status der Unterdeckungen» an alle betroffenen Netzbetreiber versandt und aufgefordert, die Weisung 2/2019 inklusive der Frist von 3 Jahren einzuhalten. Dabei wurden offenbar alle Netzbetreiber angeschrieben, deren Unterdeckung Ende 2019 grösser als 10% des geplanten Umsatzes war. Nicht beachtet wurden dabei die je nach Konstellation bereits veränderte Situation gemäss jüngster Kostenrechnungsdeklarationen im Rahmen der Tarifierung 2022 per 31. August 2021. Ebenfalls wurde beim Sample offenbar nicht geprüft, ob der geforderte Drittel der Unterdeckung weisungsgerecht einkalkuliert wurde. Die Schreiben wurden sowohl bei hohen Unterdeckungen in der Netznutzung als auch bei der Grundversorgung mit Energie ausgestellt. Die angeschriebenen Netzbetreiber sollten bis 15. Oktober 2021 schriftlich darlegen, auf welchen Betrag der Unterdeckung sie verzichten oder alternativ, wie sie planen, die Unterdeckungen vollständig abzubauen.

3. Handlungsoptionen für betroffene Netzbetreiber

Die betroffene Netzbetreiber haben grundsätzlich vier Handlungsoptionen:

  1. Aufzeigen, dass sie bereits einen Drittel des Saldovortrags in die nächste Tarifierungsperiode einkalkuliert haben und damit die Weisung 2/2019 konsequent einhalten. Dies kann insbesondere Netzbetreiber betreffen, welche ihre Praxis gemäss der Aufforderung der ElCom in den Jahren 2020 oder 2021 überprüft und neu angepasst haben. Dabei ist davon auszugehen, dass weder die Höhe der Unterdeckung im Vergleich zum Umsatz noch der Umstand, dass in Vorjahren die 1/3-Anrechnung nicht immer vollständig erfolgt ist, weitere Massnahmen der Behörde nach sich ziehen.
  2. Vollständige und ersatzlose Streichung der bestehenden Unterdeckung per 31. Dezember 2020 durch Korrektur der Kostenrechnungsdeklaration für die Tarife 2022 vom 31. August 2022 («Reopen»). Ein solcher Verzicht hat oftmals grössere finanzielle Tragweite und muss daher vom zuständigen Gremium (z.B. Verwaltungsrat oder Gemeinderat) beschlossen werden.
  3. Keine oder nur anteilige Streichung der bestehenden Unterdeckung per 31. Dezember 2020 durch konsequente Anrechnung des Drittels der verbleibenden Restsaldovortrages in der nächsten Tarifierungsperiode (Tarife 2023). Letzteres erfolgt immer vorbehältlich neuer, ungeplanter Deckungsdifferenzen, welche eine jährliche Neubeurteilung durch die Netzbetreiber bedingen. Dafür ist vielfach eine Mehrjahresplanung sowie eine Diskussion damit einhergehender Konsequenzen im zuständigen Gremium notwendig. Darauf basierend kann allenfalls eine Beantragung einer verlängerten Frist zum Abbau der bestehenden Unterdeckungen an die ElCom erfolgen.
  4. Verzicht auf eine Anpassung der bisherigen Deklarations-, Anrechnungs- und Tarifierungspraxis entgegen der Aufforderung der ElCom, allenfalls unter Verzicht auf eine Verzinsung der Unterdeckungen zur Ausräumung des Vorwurfs eines «Zinsgeschäfts». Diese Option dürfte die ElCom aufgrund ihrer mehrfach bestätigten Haltung kaum tolerieren und vertiefte Prüfungen anstreben. Netzbetreiber mit dieser Haltung müssten somit bewusst eine rechtliche Klärung in einem erwartungsgemäss lang dauernden Verfahren mit entsprechender Rechtsunsicherheit herbeiführen wollen.

Die Handlungsoptionen 1 und 4 werden nicht weiter erläutert bzw. beurteilt. Die Erste scheint inhaltlich klar, letztere wäre rechtlich von den Gerichten zu klären.

Bei der Handlungsoption 2 verzichtet der Netzbetreiber auf seine bisherigen Unterdeckungen. Er verzichtet damit auf eine Reserve im Fall eines späteren bzw. rückwirkend möglichen Tarifprüfungsverfahrens durch die ElCom sowie auf einen möglichen Verkaufspreiszuschlag bei einem Verkauf des Verteilnetzes. Sofern die Unterdeckungen im Vergleich zum Umsatz sehr hoch liegen und bspw. im konsequenten Verzicht auf Gewinnerzielung begründet ist (z.B. bei Genossenschaften), ist deren Werthaltigkeit so oder so eingeschränkt und der Entscheid einfacher. Bei mittleren Unterdeckungen (u.E. auch >10% vom Umsatz) oder im Rahmen von starken Absatz- oder Kostenveränderungen im Netz, ist die Sachlage im Einzelfall zu beurteilen. Eine detaillierte Entscheidungsgrundlage zuhanden der zuständigen Gremien ist daher wichtig. Festzuhalten bleibt dabei, dass es bisher - wie oben beschrieben – keine spezifische rechtliche Grundlage für eine Verjährung oder einen Verzicht auf Deckungsdifferenzen gibt. Daher sind wir der Ansicht, dass am ehesten die heutige, ordentliche Verjährungsfrist gemäss Art. 128 Abs. 1 OR von fünf Jahren zum Tragen kommen müsste. Diese Frist hat die ElCom im Newsletter 1/2020 im Kontext der nachträglichen Anpassungen an der Kostendeklarationen selbst so bestätigt. Diese Fristeninkongruenz zwischen Vollzugsvorgabe eines Verfalls von Deckungsdifferenzen innert drei Jahren und einer Verjährung von Deklarationen (und damit dem Recht für rückwirkende Korrekturen durch die ElCom) innert fünf Jahre erachten wir als problematisch.

Bei der Handlungsoption 3 besteht weiterhin die «operative» Frage, ob die entstandene Deckungsdifferenz jeweils zu einem Drittel des Restsaldos (wie im Erhebungsbogen bzw. der Kostenrechnung sowie im Deckungsdifferenzenformular im Anhang zur Weisung 2/2019) angerechnet werden soll, oder ob die entstandene Deckungsdifferenz linear zu 3 gleichen Teilen in den folgenden Tarifierungsperioden einkalkuliert werden muss, wie es der Wortlaut der Weisung suggeriert und die Vertreter der ElCom postulieren. Diese Differenz mag zwar als Detail erscheinen, im konkreten Fall ist genau diese Frage der Fortschreibung und des Abbaus jedoch von Relevanz.

Darstellung_ElCom

Abbildung 1. Darstellung gemäss ElCom, präsentiert von W. Luginbühl, Präsident der ElCom an der VSE-Betriebsleitertagung vom 24. September 2021, Folie 4.

Darstellung_Anrechnungsmethoden

Abbildung 2. Eigene Darstellung zum Vergleich der beiden Anrechnungsmethoden.

Wenn nun mit der ElCom aus bestimmten Gründen eine verlängerte Abbaufrist für die Anrechnung eines Deckungsdifferenzensaldos vereinbart wurde, stellt sich in der Praxis die Frage, ob für neu entstehende Deckungsdifferenzen wieder auf die üblichen 3 Perioden gewechselt werden soll. Auch im Fall von Teilverzichten kann die Frage, wie alt welcher Teil des Deckungsdifferenzensaldos ist, aufgrund der rollierenden Praxis nicht einfach beantwortet werden. Wir empfehlen den betroffenen Netzbetreibern ihre Deckungsdifferenzenspiegel von der Formularpraxis der ElCom zu lösen und entsprechend weiterzuentwickeln. Dabei ist die Entwicklung des Restsaldos und der jeweiligen Anrechnung in die Tarife für die Deckungsdifferenz jedes Jahr gesondert zu kalkulieren und fortzuschreiben. Damit kann jederzeit ausgewiesen werden, aus welchen Beträgen und welchen Jahren der bestehende Gesamtsaldo der Deckungsdifferenzen besteht. So können auch kleinere Restwerte aus längst vergangen Jahren (z.B. älter als eine klassische Verjährungsfrist von 5 Jahren) transparent ausgebucht werden.

Letztlich gilt es dabei zu berücksichtigen, dass Deckungsdifferenzen, Unter- wie auch Überdeckungen, zur «Cost+»-Regulierung gehören und nicht als Übel, sondern als Mittel zur Sicherstellung nachhaltiger, stabiler Tarife gerade im Interesse der Kunden eingesetzt werden können. Dabei wäre infolge der Kostenentstehung zumindest im Netz eine 5-jährige Anrechnungsfrist deutlich sinnvoller als eine harte, 3-jährige Verfallsdauer.

Verweise

Bildnachweis: Bild von UroshPetrovic auf istockphoto.com

  1. Vgl. dazu Andreas Stöckli / Katia Delbiaggio / Barbara Wyss, Strompreisregulierung: Wie ist mit Unterdeckungen umzugehen? in: Jusletter 22. März 2021, Rz. 7.
  2. Andreas Stöckli / Katia Delbiaggio / Barbara Wyss, Strompreisregulierung: Wie ist mit Unterdeckungen umzugehen? in: Jusletter 22. März 2021.
  3. Adrian Widmer / Markus Flatt, Verjähren regulatorisch Deckungsdifferenzen? Die Anpassung einer regulatorischen Praxis als Risiko für die Netzbetreiber, 6. Dezember 2019, erhältlich unter https://www.evupartners.ch/publikationen.
  4. Die Nicht-Einhaltung der Vollzugsvorgabe konnte man als Netzbetreiber rund zehn Jahr lang ohne weitere Konsequenzen im Rahmen der jährlichen Kostendeklaration ausweisen und (bspw. mit Vorgaben zur Tarifstabilität) begründen.
  5. Die Verjährungsfrist wirkt sich ohne schriftliche Ausnahmegenehmigung der ElCom mit dem endgültigen Verfall von Unterdeckungen direkt finanziell auf die Netzbetreiber aus.