Wie ein bisher nicht relevanter Aspekt der Stromversorgung plötzlich in den Fokus von betroffenen Marktkunden und Netzbetreibern rückt
Aufgrund der extremen Preiserhöhungen an den Strommärkten ist die Wahrscheinlichkeit von bisher äusserst selten aufgetretenen Ersatzbelieferungen von Stromkunden plötzlich deutlich gestiegen. Marktkunden ohne geltende Lieferverträge gilt es trotz der Preissituation unterbruchsfrei mit Strom zu versorgen. Daher empfiehlt sich aus Sicht eines Netzbetreibers die Bedingungen der Ersatzversorgung zu überprüfen und bei Bedarf transparent und nachvollziehbar anzupassen.
Was ist eine Ersatzbelieferung in der Stromversorgung?
Sobald ein bisher marktversorgter Energiekunde über keinen gültigen Liefervertrag mehr verfügt, springt der Verteilnetzbetreiber (Grundversorger) ein und stellt die Versorgung mittels einer sogenannten Ersatzbelieferung sicher. Im Prinzip handelt es sich dabei um eine Notversorgung des Endkunden um Versorgungsunterbrüche zu vermeiden. Auslöser sind auslaufende Marktlieferverträge, i.d.R. per Ende Jahr, Nichterfüllung von Verträgen und mögliche Konkurse eines Lieferanten.
Gemäss dem geltenden Branchendokument «Marktmodell für die elektrische Energie»1 ist die Ersatzversorgung eine Pflicht des Netzbetreibers, an dessen Verteilnetz der Endkunde angeschlossen ist. Zudem ist im Branchendokument SDAT-CH2 der verbindliche Ablaufprozess festgelegt.
Warum steigt aktuell die Bedeutung von Ersatzbelieferungen?
Bisher ist eine Ersatzbelieferung in der Schweiz ein absoluter Spezialfall und kam nur selten vor. Entsprechend wenig Beachtung wurde dem Thema bisher von den Akteuren (sowie von Behörden und Gesetzgeber) geschenkt. Ausgehend von der spezifischen Marktsituation kann davon ausgegangen werden, dass zu Beginn von 2022 etliche Kunden in die Ersatzversorgung gefallen sind bzw. sich bewusst in die Ersatzversorgung fallen liessen. Innerhalb eines Jahres vervielfachten sich die Handelspreise für Strom an den Spot- und Terminmärkten. Dabei konnte an den Terminmärkten mit Ausnahme einen kurzzeitigen Preiszerfalls zu Beginn Oktober ein kontinuierlicher Preisanstieg im Verlaufe des Jahres beobachtet werden.3 Endkunden mit auslaufenden Verträgen standen also vor der Wahl zu deutlich schlechteren Konditionen als bisher abzuschliessen oder mit dem Vertragsabschluss auf eine vermeintlich bessere Marktlage zu warten. Findige marktversorgte Endkunden wollten in die preislich plötzlich attraktive (kostenbasierte) Grundversorgung zurückwechseln. Solche Anliegen wurden mit Blick auf den geltenden Grundsatz «einmal frei, immer frei» in Anlehnung an Art. 11 Abs. 2 der Stromversorgungsverordnung (StromVV) zurecht durch die Netzbetreiber abgelehnt. Gemäss diesem entfällt mit dem Gebrauch des Netzzugangs durch den Endkunden die Lieferpflicht des Netzbetreibers nach Artikel 6 Stromversorgungsgesetz (StromVG) endgültig. Einzelne Unternehmen gelangten mit ihrem Anliegen an die Elcom und warteten deren Beurteilung ab (vgl. nachstehend).
Die Strategie auf eine vermeintlich bessere Marktlage zu warten, entpuppte sich im Nachhinein zumindest bisher als Illusion. Faktisch stiegen (insb. im Dezember) die Preise täglich, was zu immer unattraktiveren Angeboten bei einem sich schliessenden «window of opportunity» führte. Ausgehend von dieser spezifischen Situation ist davon auszugehen, dass nicht alle Kunden Ende Jahr über einen gültigen Liefervertrag verfügten und daher vermehrt die Ersatzversorgung in der Hoffnung auf sinkende Preise in Anspruch genommen wurde.
Was sagen Gesetzgeber und Regulator zum Thema Ersatzversorgung?
Eine gesetzliche Regelung der Ersatzversorgung existiert im geltenden StromVG noch nicht. Erst mit der geplanten Revision des StromVG soll die Ersatzversorgung explizit gesetzlich geregelt werden. Dementsprechend äussert sich die ElCom im Dezember 2021 publizierten Newsletter derzeit als nicht für die Ersatzversorgung zuständig.4 Dabei bestätigte sie den Grundsatz, dass ein Kunde, welcher einen freien Marktzugang nach Art.11 Abs. 2 StromVV beantragt hat, sein Recht auf Grundversorgung endgültig verwirkt hat. Insbesondere fehlt aus Sicht der ElCom für die Beurteilung der Preishöhen im Rahmen der Ersatzversorgung aktuell ein gesetzlicher Auftrag. Das Fachsekretariat der ElCom empfiehlt den von der Ersatzversorgung betroffenen Endkunden, sofern diese nicht reglementarisch festgelegt wurde, die Bedingungen (Beginn, Preis, Ende) vertraglich zu regeln. Wichtig erscheint aus Sicht ElCom zudem, dass die Ersatzversorgung nur vorübergehend ist und unter Einhaltung der Wechselfristen wieder durch eine ordentliche Versorgung zu Marktbedingungen ersetzt, werden kann. Dabei erwähnt die ElCom in Ihrem Schreiben die geltenden Wechselfristen gemäss Prozess SDAT-CH von 10 Arbeitstagen, welche sie als genügend erachtet, zumal die Ersatzversorgung schnellstmöglich wieder aufzuheben sei.
Was könnte sich mit der Revision StromVG verändern?
Mit der aktuell im Parlament beratenen Revision StromVG gewinnen Ersatzversorgungen an Relevanz, da mit einer weitergehenden Marktöffnung solche vertragslosen Situationen öfter auftreten können. Mit dem geplanten Art. 7 StromVG wird gesetzlich bestätigt, dass der Netzbetreiber einen vertragslosen Endkunden in seinem Netzgebiet mit Strom beliefern muss. Dabei sollen aber die Tarifhöhen nicht wie in der Grundversorgung flächendeckend auf deren Angemessenheit überprüft werden. Neu soll die ElCom eine Missbrauchsaufsicht für Preise und Bedingungen der Ersatzversorgung erhalten.5 Dies vor dem Hintergrund, dass die Ersatzversorgung eine vorübergehende Ausnahmesituation, welcher so bald wie möglich wieder aufzuheben sei. Im erläuternden Bericht zur Gesetzesrevision soll eine Verweildauer von rund einem Monat und/oder eine 10-tägige Kündigungsfrist angestrebt werden. Eine kurze «Kündigungsfrist» für die Ersatzversorgung ist auch im Lichte von Artikel 1 Absatz 1 StromVG, wonach das StromVG die Schaffung der Voraussetzungen für einen wettbewerbsorientierten Elektrizitätsmarkt bezweckt, sowie von Artikel 13 Absatz 1 StromVG, wonach die VNB verpflichtet sind, Dritten den Netzzugang diskriminierungsfrei zu gewähren, zu begrüssen.
Da die politischen Mehrheitsverhältnisse offenbar einer vollständigen Strommarktöffnung kritisch gegenüberstehen, könnte dieser Teil der Revision des StromVG nochmals verschoben werden. Sollte dies passieren, ist zu hoffen, dass die Regelung zur Ersatzversorgung davon unbeschadet zeitnah in Kraft gesetzt wird.
Was empfiehlt sich aus Sicht eines Netzbetreibers im Kontext der Ersatzversorgung?
Auch wenn die aktuelle Preissituation als aussergewöhnlich zu beurteilen ist, zeigt es sich, dass die Ersatzversorgung an Bedeutung gewinnen wird, resp. eine einzuhaltende Vorgabe ist. Sofern nicht bereits geschehen, sollten daher die Netzbetreiber die Grundlagen der Ersatzbeschaffung überprüfen und bei Bedarf aktualisieren. Wichtig erscheint uns, dass das Thema entweder in den Allgemeinen Bedingungen, auf den Tarifblätter oder in einem standardisierten Vertrag geregelt sei sollten. Im Zentrum steht dabei der Preis, welcher tendenziell dynamisch (=Preisgleitformel) ausgestaltet werden sollte. Aufgrund der voraussichtlich eher kurzen Verweildauer der Endkunden, sollte sich dieser daher eher an kurzfristigen Preissignalen und möglichen Zukäufen von HKN orientieren. Dabei empfiehlt sich eine Koppelung an Forward-Notierungen eines Monats oder Durchschnittwerte der EPEX-Spot-Notierungen des vergangenen Monats. Eine zu starre Regelung (bspw. Publizierung von fixen Tarifen) ist unseres Erachtens nicht zu empfehlen. Dies führt bei starken Preisschwankungen zu laufenden Anpassungen der Tarife/Preise, welche insbesondere bei Einbindung in einen politischen Prozess aufwendig sein können. Zahlreiche Netzbetreiber haben fixe Tarife der Ersatzversorgung als Teil ihrer Tarifsammlung per Ende August publiziert und mussten diese nun bereits mehrfach, zum Ärger ihrer Endkunden, revidieren.
Neben dem eigentlichen Energiekosten sollte ein Aufschlag zur Abgeltung für den eigene Aufwand und für die damit verbundenen Beschaffungs- und Ausfallrisiken erhoben werden. Gemäss einer nicht repräsentativen Marktanalyse beträgt dieser Aufschlag bei schweizerischen Netzbetreibern – welche für die Ersatzversorgung eine Preisformel publizieren – zwischen 10 - 20% auf dem Beschaffungspreis. In der Regel wird auch definiert, dass der Preis des Ersatzprodukts im Minimum der Höhe des Haushaltstarif entspricht. Während ein Aufschlag in % im bisherigen Preisumfeld die Regel war, führt ein solcher Aufschlag bei den aktuell enorm hohen Marktpreisen zu einer für den Kunden teilweise nicht mehr tragbaren Preissituation. Gerade vor diesem Hintergrund gilt es seitens der Netzbetreiber auch die Zuschlagspolitik aktiv zu überprüfen. Anstelle von %-Aufschlägen sind insbesondere auch fixe Zuschläge möglich. So erheben bereits heute Netzbetreiber auch Einmalkosten.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Ersatzversorgung auch langfristig über hohe Freiheitsgrade bei der Preisgestaltung verfügen wird und die Risiken des Netzbetreibers abdecken soll. Ziel sollte es sein, die (finanziellen) Anreize so zu setzen, dass der Endkunde nicht bzw. nur eine sehr begrenzte Zeit in der Ersatzversorgung verweilt und sobald wie möglich wieder eine ordentliche Versorgung (Markt-, Grundversorgung6) anstrebt. Dies heisst aber auch, dass lange Verweildauern und Kündigungsfristen für die Ersatzversorgung zu vermeiden sind. Beides wird heute, wenn auch nur von einzelnen Netzbetreiber angewendet. Unseres Erachtens sind solche Bedingungen kritisch, weil diese dem Grundsatz der vorübergehenden Notversorgung bis zur Wiederherstellung einer ordentlichen Liefersituation widersprechen. Zudem erscheint eine kurze Verweildauer auch aus Sicht des Netzbetreibers sinnvoll. Zwar bestehen heute hohe Freiheitsgrade bezüglich Ausgestaltung der Ersatzversorgung, doch ergeben sich neben dem Mehraufwand auch energiewirtschaftliche und kundenseitige Risiken, welche den finanziellen Nutzen begrenzen. Daher empfiehlt sich, sobald ein Endkunde in die Ersatzversorgung kommt, diesen so schnell wie möglich mit einem Marktvertrag zu marktgerechten Konditionen wieder nachhaltig und rechtssicher zu versorgen. Aufgrund der immer noch hohen Forward-Notierungen für das Frontjahr und der deutlichen günstigen Folgejahre besteht auch aus Kundensicht zumindest die Aussicht auf eine sich langsam wieder normalisierten Preissituation.
Verweise
Bildnachweis: Bild von dimitriwittmann auf Pixabay
- VSE MMEE – CH 2018.
- VSE Standardisierten Datenaustausch für den Strommarkt Schweiz (2018); Kap. 3.2.4.
- Bspw. Jahresprodukt 2022 (base): 5.41 Rp./kWh (18.1.21); 26.41 Rp./kWh (Preis letzter Handelstag; Ende Dezember).
- ElCom Newsletter 12/2021 (7. Dezember 21).
- Vgl. Art. 22 Abs. 2 Bst. c) Entwurf StromVG.
- Ein Marktkunde nach heutigen Bedingungen kann nicht in die Grundversorgung wechseln. Mit der Revision des StromVG soll, sofern alle Kundensegmente liberalisiert werden, die Möglichkeit für Kunden <100 MWh bestehen, aus der Ersatz- in die Grundversorgung zu wechseln.